Umbrüche – Transformationsprozesse in Europa

Umbrüche – Transformationsprozesse in Europa

Organisatoren
Michaela Bill-Mrziglod, Institut für katholische Theologie, Fachbereich Kirchengeschichte, Universität Koblenz / Regionalkoordinatorin West des Arbeitskreises für historische Frauen- und Geschlechterforschung (AKHFG), Sarah Schäfer-Althaus, Institut für Anglistik und Amerikanistik, Universität Koblenz
Ort
digital (Koblenz)
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.02.2022 - 25.02.2022
Url der Konferenzwebsite
Von
Jana Katharina Schmitz, Katholische Theologie / Germanistik, Universität Koblenz-Landau

Das Thema des interdisziplinären Workshops stellt auf Grund seiner historischen Dimension und immerwährenden brisanten Aktualität einen elementaren Ausgangspunkt für eine vieldimensionale wissenschaftliche Betrachtung dar. Die Tagung fokussierte auf den Zeitraum zwischen 1450 und 1830 und untersuchte Umbrüche unter den Aspekten Stand, Beruf(ung), Geschlecht und Körperlichkeit.

Im ersten Block ging es um Umbrüche in Sprach-, Bild- und Körperkonzepten. ANKE LENSCH (Koblenz) stellte heraus, dass Sprache als Grundlage von Kommunikation und Kultur nicht nur als notwendige Klammer für Gesellschaft und Politik fungiert, sondern diese in ihrer kontinuierlichen Transformation durch Zeichen des Wandels wie etwa semantische Konnotationen, Verschiebungen oder Verengungen abbildet. Bezogen auf die Frage, ob semantische Veränderungen bei Bezeichnungen für Frauen über mehrere Jahrhunderte hinweg erkennbar sind und inwiefern sie gesellschaftliche Vorurteile widerspiegeln, legte Lensch an mehreren Beispielen dar, dass feminine Begrifflichkeiten oft von einer ursprünglich neutralen Benennung aus pejorisiert werden. Dies geschieht meistens durch eine Bedeutungszuschreibung von engführenden semantischen Kriterien wie Familienstand, sexuelle Reife/Aktivität, Beruf oder auch Bezeichnung familiärer Beziehungen. Auch wenn das grammatikalische Geschlecht in der mittelenglischen Sprachperiode verlorengegangen ist, kam es durch gesellschaftliche Zuschreibungsprozesse zunehmend zu einer Sexualisierung von Sprache.

Einen ebenso prägnanten Wandel zeichnete MICHAELA BILL-MRZIGLOD (Koblenz) in ihrem Vortrag über asketische Transformationsräume in der frühen Neuzeit am Beispiel von Arbeit und Beruf(ung). Im Mittelpunkt der kirchengeschichtlichen Ausführung stand der Körper als individueller Schauplatz der Veränderung. Gebet und Arbeit sind in der Askese nicht zu separieren, was schon die etymologische Ursprünglichkeit des Lexems „Arbeit“ verdeutlicht. Während die Arbeit in der Antike noch als passives Erleiden verstanden wird, erhält sie durch das Mönchtum und Grundsätze wie ora et labora et lege eine gewisse Wertschätzung. Erst die Renaissance verbindet mit Arbeit einen aktiven und überaus positiven Schaffensprozess. Dieser Bedeutungsumschwung bildet das Fundament eines neuzeitlich nahezu sakralisierten Arbeitsethos im Sinne der Leistung und Selbstverwirklichung und wird somit zu einem positiven Faktor eines sich wandelnden Konglomerats von Anthropologie, Theologie und Philosophie. Durch religiöse Erneuerungsbewegungen im Spätmittelalter wie in der Moderne brechen sich neben traditionellem Katholizismus auch neue Wege geistlichen Lebens ihre Bahn. Die Frage nach der Vollkommenheit des Menschen vor Christus wird nicht mehr nur durch die sakramentale Weihe der Kleriker oder die Profess der Ordensleute beantwortet. Auch asketische Arbeit mit und an Körper und Geist zwischen Elementen von Kontemplation und Aktion eröffnet so jedem Laien potenziell eine Fläche geistlicher Performanz. Der Körper wird somit zum Medium einer religiösen oder konfessionellen Haltung, zum Raum individueller Gottesnähe, zur nonverbalen Kommunikationsfläche der Nicht-Gehörten im System Kirche, zur Möglichkeit subversiver Partizipation an Reformdiskursen besonders von Frauen, zum Ort der konfessionellen Abgrenzung und somit zu einer konfliktgeladenen Umbruchszone zwischen Kirche und Welt.

Die Spannung von individuellen Umbrüchen und gesamtgesellschaftlichem Wandel mit dem Fokus auf kirchlichem Leben demonstriert auch ALESSANDRA BOST (Saarbrücken) in ihrem Beitrag über die Mariendarstellung der Karmelitin Maria Maddalena de' Pazzi (1566-1607). Die bereits frühneuzeitlich heiliggesprochene Ordensfrau bringt in ihren mystischen Schriften ein besonderes Verhältnis zur Gottesmutter Maria zum Ausdruck. Ihre mariologische Annäherung gliederte Bost in drei Ebenen, nämlich die individuelle Spiritualität, den Emanzipationsgedanken und die kirchenpolitische Stoßrichtung. Auf der einen Seite tendiert die vielfältige Mariendarstellung der Mystikerin zu einer geistlich übersteigerten Tradition des Katholizismus, der Maria in Sphären unerreichbarer Entmenschlichung verortet, auf der anderen Seite lassen die Schriften aber auch den Geist des Renaissancehumanismus erkennen, der die Menschlichkeit Mariens betont und sie somit für die Gläubigen greifbar werden lässt. Inmitten dieser aufgeladenen Dichotomie, die Maria unterschiedliche Attribute zuschreibt, wird sie zum Katalysator individueller, geistlicher und politischer Umbrüche, die den Menschen selbst in das Kraftfeld des Heiligen rücken. In einer Zeit der kategorischen Pejoration des weiblichen Geschlechts verschafft Maria den Frauen in Klausur eine Stimme, da diese menschliche Mariologie als ein Statement für die Rolle der Frau in der Kirche und somit auch für einen Umbruch im Denken und Handeln verstanden werden kann.

Im zweiten Block stand Literatur als Spiegel des Umbruchs im Fokus. Eine besondere Rolle in einem männlich dominierten Diskurs nimmt auch Caroline Rudolphi (1753-1811) ein, deren Lebenswerk STEPHANIE VOCHATZER (Karlsruhe) vorstellte. Der zu Beginn des 19. Jahrhunderts erschienene Briefroman der Gouvernante über die weibliche Erziehung mit biografischen Elementen unter dem Deckmantel von Fiktionalität und ungewollter Publikation richtet sich sowohl an Männer als auch an Frauen. Rudolphi fordert in ihrem Werk nicht nur die Bildung der Frau, sondern plädiert auch für einen weiten Begriff von Weiblichkeit, der eben das eine Ideal der Frau zu Gunsten eines gewissen Maßes an Individualität aufbricht. Mit einem von Philanthropie und Rationalismus geprägten Frauenbild, das auch von ihrem akademischen Umfeld beeinflusst ist, wird Rudolphi durch ihre selbstbewusste, gebildete und geschickte Art zu einem gesellschaftlichen Anziehungspunkt. Ihr Erziehungsinstitut gehört damit auch zu den Stimmen der Reform und der Transformation von pädagogischen Konzepten, gesellschaftlichen Konventionen und Geschlechtermustern, auch wenn sie sich in ihrer Handlungsweise dem vorgegebenen kulturellen Rahmen fügt.

Während zuvor zwei Frauen als Stellvertreterinnen und Akteurinnen für Umbruchsprozesse in das Blickfeld wissenschaftlicher Analyse gerückt wurden, referierte YVONNE AL-TAIE (Kiel) über das Transformationsmotiv des Tanzes. Bei der näheren Betrachtung literarisch figurierter Tanzveranstaltungen in dem traditionsreichen Werk „Die Leiden des jungen Werthers“ von Johann Wolfgang von Goethe und in Joseph von Eichendorffs programmatischer Schrift „Das Marmorbild“ stellt sich heraus, dass der Tanz als dynamische Performanz gesellschaftlicher Ordnung sogleich Auslöser und Abbild persönlicher und kollektiver Umbruchsmomente darstellt. Sowohl der gesellschaftliche Konflikt Werthers als auch die psychischen Dilemmata des jungen Künstlers Florio spielen sich in einem perpetuellen und zugleich flüchtigen Reigen von Chaos und Ordnung ab. Der Wunsch nach Nähe und die Notwendigkeit der Distanz tragen in ihrem Kontext zur Komplexität von Beziehungsgeflechten bei und erschöpfen sich dabei in literarischen Ausgestaltungen bedeutungstragender Allegorien. Die Frau wird in beiden Werken zum Objekt der Leidenschaft degradiert und erfüllt somit nur die Leerstelle stereotypisierter Konzepte von Weiblichkeit.

Im letzten Vortrag stellte RAPHAEL ZÄHRINGER (Tübingen) Umbrüche in Maria Edgeworths Roman „Ennui“ vor. Die anglo-irische Schriftstellerin zeichnet in diesem Werk die Komplexität der hereinbrechenden Moderne nach. Auch wenn sie die Umbrüche als positive Entwicklungen betrachtet, geht mit sozialen und politischen Transformationsprozessen immer auch die Problematik der Instabilität einher, die gerade in der Zweiteilung des Werks und der Entwicklung von einer feudalen, aristokratischen Passivität hin zu einem aktiven bürgerlichen Realismus deutlich wird. Die fiktiven Memoiren des Protagonisten Lord Glenthorn legen auf einer übergeordneten Metaebene das Bild des Niedergangs einer wohlhabenden, jedoch sozial defizitären Gesellschaft dar. Die grundlegenden politisch neu zu ordnenden Thematiken wie Bildung, Wirtschaft, Stand, Struktur und Identität liegen in einem Vakuum erkenntnistheoretischer Instabilität. Es stellt sich somit nicht nur die Frage nach der mit den Umbrüchen einhergehenden Zukunft, sondern auch die nach der Vergangenheit und ihrer Erinnerung. So ergänzte die Auslegung Zähringers mit der Thematik des kulturellen Erinnerns bzw. des sozialen Vergessens die bereits vorgestellten Aspekte von Transformationsprozessen.

Resümierend lassen sich folgende übergreifende Erkenntnisse zusammentragen: Umbrüche bilden ein Grundphänomen individueller und kollektiver Existenz. Transformationsprozesse passieren nie isoliert, sondern immer in großen, kaum fassbaren Zusammenhängen. Ein Puzzle kollidierender und interaktiver Veränderungsprozesse, die sich zugleich beschränken und bereichern, lässt sich deshalb nur in einem interdisziplinären Austausch greifbar machen. Die Diskussion von Pädagogik, Linguistik, Literaturwissenschaft und Theologie konnte auf der Tagung fachspezifische Grenzen öffnen und so den Blick für große und bedeutungsschwere Zusammenhänge von Transformationen weiten.

Mit Umbrüchen ist immer auch Chaos verbunden. Unordnung wird gestiftet durch sich verändernde semantische Bezüge sowie Unklarheiten von Position, Status und Identität in spezifischen sich wandelnden Systemen. Vergleichbar ist dieses Phänomen mit der literarischen Zeichnung der bewussten oder unbewussten Verirrung von Schritten in einem gesellschaftlich tradierten Tanz, denn ein Umbruch zieht immer zugleich ein Wegbrechen von Bekanntem und einen Anbruch von etwas Neuem mit sich. Er beginnt, ohne jemals abgeschlossen zu sein, da Ideale, Visionen und Ziele in diesem großen und komplexen Zusammenhang immer Grenzwerte sind, die sich einer vollendeten Lösung entziehen und somit in der Schwebe des „schon jetzt und noch nicht“ stehen. Verstärkte Normierungen und Reglementierungen stellen hier retardierende Momente in einem nach vorne drängenden Prozess dar. Die untergeordnete, determinierte Rolle der Frau, die in allen Beiträgen sichtbar wurde, ist auf der einen Seite eine solche Beschränkung, da sie die Handlungsfreiheit limitiert, auf der anderen Seite verursacht gerade dieses Ungleichgewicht eine alles verändernde Dynamik, die es braucht, um große Transformationen ins Rollen zu bringen. Diese nach Veränderung drängende Spannung findet Ausdruck in Sprache als dem kulturellen Fundament, im Körper als Projektionsfläche gesellschaftspolitischer und religiöser Performanz, in der Erziehung und den Tugendidealen als Zeugnisse für Menschen- und Weltbilder und besonders in der Literatur, die es vermag, diese kaum fassbaren Prozesse in gewaltigen Sprachbildern zu äußern. Möglichkeiten für Transformation bieten dabei oft unsichere Räume, die durch unklare Verhältnisse charakterisiert sind. Die bleibenden Fragen nach der Erinnerung von Geschichte und Umbrüchen, nach Kontinuitäten und Interdependenzen, nach der Notwendigkeit bzw. dem Preis von Transformationen, nach den Ursachen der Pejorisierung von Sprache und nach dem sich bedingenden Zusammenhang von individuellen und gesamtgesellschaftlichen Veränderungen bilden damit den Grundstock für weitere polyperspektivische Diskussionen im kommenden Oktober, wenn sich ein weiterer Workshop mit den Umbrüchen und Transformationsprozessen von ca. 1830 bis heute beschäftigen wird.

Konferenzübersicht:

Anke Lensch (Koblenz): About mistresses, hussies, hostesses and spinsters. Semantic Change as a Reflection of Prevailing Societal Preconceptions

Michaela Bill-Mrziglod (Koblenz): An der Schwelle zwischen Arbeit und Gebet. Asketische Transformationsräume in der Frühen Neuzeit

Alessandra Bost (Saarbrücken): Die Mariendarstellung der Karmelitin Maria Maddalena de’ Pazzi (1566-1607) zwischen Entmenschlichung und Vermenschlichung.

Stefanie Vochatzer (Karlsruhe): Erziehung zur Hausfrau und Mutter?! Umbrüche geschlechterspezifischer Ordnung in der Spätaufklärung

Yvonne Al-Taie (Kiel): Choreographien des Transitorischen. Tanzveranstaltungen als literarische Figurationen biographischer Umbrüche bei Goethe und Eichendorff

Raphael Zähringer (Tübingen): Modernity Disrupted? Processes of Transformation in Maria Edgeworth’s Ennui